Hommage an Hans Bergel
Von Ana Blandiana

Ich lernte Hans Bergel in drei Etappen kennen: Zuerst kannte ich seinen Namen, dann seine Person und später lernte ich auch sein Werk kennen – zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen. So lernte ich sukzessive immer ein größeres Stück seiner Persönlichkeit und ihrer Komplexität kennen.
Am Anfang stand sein Name oder vielmer der Name seines Bruders – Erich Bergel, der Leiter der Philarmonie aus der Stadt meiner Jugend. Der Schriftsteller, Bruder des berühmten Musikers – von dem ich damals noch nicht wusste, dass er einst internationalen Ruhm erringen wird –, war für mich von besonderer Bedeutung. Erich Bergel war es gelungen, Musik – die für mich bis dahin lediglich in der Zwangsjacke der Klavierstunden daherkam – so umzudefinieren, dass sie zu einem beherrschbaren Geheimnis des Universums wurde. Die Freude, die ich damals, am Ende meiner Kindheit, in der Dunkelheit des Konzertsaales entdeckte, bewahrte ich mir ein Leben lang. Sie war stets eng verbunden mit meiner Bewunderung für den jungen Konzertmeister, der damals urplötzlich vom Dirigentenpult dramatischerweise verschwand, um in der Stille eines Gefängnisses unterzutauchen. In der Stadt flüsterte man, dass er verhaftet wurde, da er religiöse Musik interpretiert habe (Bach, Händel, Mozart, Haydn). Zur gleichen Zeit wurde auch sein Bruder, der Schriftsteller, verhaftet. Es geschah im Jahr 1959, das Jahr der großen Verhaftungen, die besonders die Intelektuellen des Landes trafen. Auch mein Vater, ein orthodoxer Priester, gehörte zu ihnen.
Diese erste Erinnerung an Hans Bergel ist vielmehr eine wolkenhafte Erinnerung, die sich auf Gefühle und eine Gemütsverfassung aufbaut, aber dennoch zu dem Stoff gehört, der meine Bildung ausmachte. Begegnen sollte ich ihm erst einige Jahrzehnte später: bei den Tagungen der Sommerschule in der Gedenkstätte Memorial Sighet. Diesmal war er nicht nur der Bruder seines Bruders, sondern einer der fünf Verurteilten des bekannten Schriftsteller-Prozesses deutscher Autoren, die zu insgesamt 95 Jahren Haft verurteilt wurden. Dieser Prozess fand zur gleichen Zeit statt wie der Noica-Prozess, bei dem 23 rumänische Intellektuellen zu insgesamt 268 Jahre Gefängnis verurteilt wuden. Sie wurden beschuldigt, verbotene Bücher gelesen und an andere bedeutende Intelektuelle verteilt zu haben. Der Schriftstellerprozess der fünf deutschen Autoren (Andreas Birkner, Wolf A. Aichelburg, Georg Scherg, Hans Bergel und Harald F. Siegmund) erhielt traurige Berühmtheit wegen der Anschuldigung der Autoren, Bücher verfasst zu haben, welche nach dervZensur in Rumänien erschienen sind. Hans Bergel, der in diesem Prozess wegen der Veröffentlichung seiner Erzählung Der Prinz und der Barde zu 15 Jahre Zwangsarbeit verurteilt wurde, befand sich übrigens nicht zum erstenmal in Haft. Er wurde bereits 1947 in Budapest beim illegalen Grenzüberschreiten gefangen genommen und zu 14 Monaten Haft verurteilt sowie ein weiteres Mal für schuldig befunden, den sozialen öffentlichen Frieden zu stören. Zwischen diesen biografischen Daten, die wir als juristische Ereignisse bezeichnen könnten, ist das Leben des Schriftstellers Hans Bergel von der Vielseitigkeit und Größe einer Stimmgabel (um es auch mit der Musiksprache auszudrücken). Es erlebte eine regelrechte Wiedergeburt. Bergel ist nicht nur ein bedeutender Schrifststeller, sondern er war auch ein Ausdauersportler (Meister des Stafettenlaufs, Mitglied der nationalen Schimannschaft). Er übte zahlreiche weitere Tätigkeiten und Funktionen aus, zu denen jene als Nachtwächter, Tagelöhner, Maurer, Journalist, Geiger des Musiktheaters von Kronstadt gehören; er vermittelte auch zwischen den Partisanengruppen in den Sebescher-Karpaten. Seine Karriere eines Nichtunterdrückbaren (Unbeugsamen) begann, als er floh, um der Deportation in die Sowjetunion als Siebenbürgen-Deutscher zu entkommen.
All diese biographischen Eigenheiten verliehen ihm die besondere Eigenschaft, als ausgewählter Referent und Zeitzeuge in der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des kommunistischen Widerstands im Memorial Sighet zu sprechen. Seine Vorträge können wir heute in den Büchern der Sommerschule Sighet, herausgeben von Romulus Rusan nachlesen; sie gehören zu den wesentlichen Beiträgen, die uns nicht nur die kommunistische Unterdrückung in Rumänien vor Augen führen, sondern auch die Geschichte der deutschen Minderheit der Siebenbürger-Sachsen während der kommunistischen Zeit kennenlernen lassen. Ich erinnere mich vor allem an die Wirkung seiner Worte auf die Zuhörer der Sommertagung im Memorial Sighet: stringent und pathetisch zugleich. Seine Mitarbeit bei dem Memorial war vielseitig: Er stellte uns Dokumentationsmaterial über den Schriftstellerprozess zur Verfügung sowie Daten betreffend die Verfolgung der deutschen Minderheit in Rumänien. So entstand das Buch Chronologie und Geographie der kommunistischen Unterdrückung in Rumänien. Die Zahl der Inhaftierten von 1945–1989” , von Romulus Rusan herausgegeben – ein wertvolles Nachschlagewerk, erarbeitet von der Bürgerakademie (Academia Civica).
Richtig kennen lernte ich Hans Bergel somit erst nach der Lektüre seiner Bücher. Das war erst viel später möglich, nachdem diese ins Rumänische übersetzt waren. So hatte ich nach der Lektüre seiner Romane Wenn die Adler kommen und Tanz in Ketten , der Essaysammlung Die Rückkehr von Ullyses das Gefühl, den Menschen Bergel, den ich eigentlich bereits seit langem kannte, wiederentdeckt und kennengelernt zu haben, da er viel mehr ausmachte als nur den Menschen, den ich bisher kannte. Die hervorragende Übersetzung der Texte Hans Bergels ins Rumänische von dem Germanisten, Professor Dr. George Gutu, sind von einer Schönheit und fließenden Sprachfertigkeit, so dass sie mir den Eindruck vermittelten, dass Hans Bergel eigentlich ein rumänischer Autor ist. Wie bei vielen Schrifstellern sind auch Hans Bergels Bücher autobiographisch. In seinem Fall ist das Reflexivpronomen auch stellvertretend für das Schicksal der Siebenbürger-Sachsen. Sie spielen in Transsylvanien, dem Land der Wälder und Berge, der rumänischen Hirten; der homo transilvanus als Repräsentant Südosteuropas, jener Teil Europas mit all seinen Tragödien und Leidenschaften, der einen Teil Europas, und somit einen Teil der Welt umfasste – Landschaften, die der Autor, nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis und der Emigration nach Deutschland, durchstreift, entdeckt, betrachtet und analysiert – von Nordamerika bis Afrika, von Südamerika bis Neuseeland.
Ich glaube, ich irre mich nicht, wenn ich Hans Bergel als den repräsentativsten Autor Siebenbürgens betrachte, Repräsentant jenes Transsylvaniens, das als Ort der Begegnung und Zusammenlebens verschiedener Ethnien, Religionen, Traditionen und Mentalitäten zum Symbol wurde, gezeichnet von Kreativität, Vitalität und Sensibilität. All dies ist dem Autor des Buches Gedenkblatt für eine siebenbürgische Stadt – eine pathetische Hymne, liebevoll, aber nicht ohne Strenge, auch nicht ohne Ironie, die Kronstadt und dem Burzenland gewidmet ist – bekannt. Die überwältigende Liebe für sein Land taucht als außergewöhnliche Kindheitserinnerung in seinem Buch Wenn die Adler kommen auf. Hier gelingt es dem Autor eine wahre Freske, zutiefst suggesitv, über das Leben und die Zeit seiner Großeltern und Eltern zu zeichnen. Die Berge, Wälder, Wiesen, Tiere, Menschen, der Reichtum, die Traditionen, Freuden und Leiden dieser Menschen erzählt der Autor leidenschaftlich. Voller Nostalgie schildert er das einstige Siebenbürgen, das heute Geschichte und Traum gleichermaßen ist. Die Bauernbilder, Hirtenerzählungen, die rumänischen Klosterbrüder, Intelektuellen, Händler, siebenbürgischen Jäger, Pferdehändler, Zigeunerwagen – eine bunte, vielseitige Welt – werden beherrschert von der mythischen Figur des Hirten Gordan (die Schlüsselfigur des gesamten Werkes des Schrifstellers) und von der zauberhaften, mysteriösen Gestalt des Großvaters Hardt – vor dem Hintergrund einer fülligen und geheimnisvollen Naturlandschaft. Betrachtet durch die Augen des Kindes, ist die Natur die Schlüsselfigur dieses Buches, geschrieben von einem Autor, der in vielerlei Hinsicht verglichen werden kann mit dem großen rumänischen Erzähler Mihail Sadoveanu. Bergel erzählt jedoch mit sensiblerem, größerem Geschichtsbewußtsein. Wenn in diesem Buch die Natur die Hauptperson ist, so finden wir in seinem Roman Tanz in Ketten die Geschichte im Mittelpunkt des Buches: bisher der komplexeste Roman, der auf subtile Weise den kommunistischen Terror Rumäniens in den fünfziger Jahre beschreibt. Von dem einstigen gefürchteten Kerker in Jilava, der Stadt in der Walachei, bis zu den Wohnviertel, den Wohnungen der Nomenklatur, die Unterdrückung der Bevölkerung – Bergel beschreibt minutiös alle Geschehnisse, die im Traumgewebe symbolisch erhalten bleiben.
Ich kannte also Hans Bergel erst, als ich sein Leser wurde. Zu dieser Begegnung kam eine für mich besonders emotionale Seite hinzu, als ich zu seiner Kollegin wurde. Der Prosaist und Essayist Bergel, den ich bewunderte, überraschte mich mit der Übersetzung mehrerer Gedichte von mir – aus purer literarischer Empathie anfangs, ohne einen Gedanken, sie zu veröffentlichen, entstand der Gedichteband Die Versteigerung der Ideen , vorgestellt bei der Leipziger Buchmesse 2011. Zusammen mit Georg Aescht brachte Hans Bergel, Übersetzer und Autor meines Buches, eine Hommage der Poesie, würdig verteten durch jenen Typus des Osteuropäers, der wir beide sind, und der künstlerisch überlebt und präsent ist.
Diese Zeilen sind dem 95. Geburtstag von Hans Bergel gewidmet – das ist ein Zufall, aber das Alter entspricht ihm nicht, wie jedenfalls die allgemeinen Maßstäbe auch nicht auf ihn zutreffen.
Meine Hommage gilt seiner Person wie seinem Werk gleichermaßen: Der Ausdauer, mit der er sein erlebtes Leben in Poesie und Kunst verwandelte und somit zum Symbol seiner Zeit avansierte – eine Zeit, die er durchwandert und überwunden hat zugleich.
Aus dem Rumänischen von Katharina Kilzer

 

 

 

 

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