Neue Gedichte von Ilse Hehn: Sandhimmel. Lyrik und Übermalungen
„Und ich jag voller Wut / den Krempel durch die Luft“

von Christina Rossi

Ilse Hehn hat vor einigen Monaten mit einem hochwertig gestalteten Gedichtband ihren Wechsel zu dem jungen, in Ulm ansässigen danube books Verlag vollzogen: Sandhimmel heißt das im Sommer dort entstandene Werk. Es vereint das Genre der Lyrik und das der bildenden Kunst auf eine selbst für Ilse Hehn – deren künstlerische Doppelprofession bereits in früheren Bänden zur Geltung kam – neuartige Weise. Mehr oder weniger bekannten Werken der Kunstgeschichte stellt die Dichterin eigene, alte wie neue Gedichte zur Seite – in der Intention, nicht über die Bilder, sondern gleichsam aus den Bildern heraus zu sprechen. „In den meisten Texten ist es die Person im Bild selbst“, so Hehn, „die über ihre Befindlichkeit oder eine Facette der Liebe reflektiert“. Überdies hat die studierte Kunstwissenschaftlerin Hehn die herangezogenen Kunstwerke selbst malerisch verfremdet. Dieser couragierte Zugang fügt den Werken neue Deutungsmuster hinzu und verstärkt nicht nur vorhandene. Und es sind es vor allem die frühen Gedichte aus ihrem Œuvre, die in diesem unerwarteten Wechselspiel mit den Bildern einen ungeahnten, neuen Resonanzraum erfahren.

9783946046066

„Die Liebe ist eine Portion Sand / ein Sandhimmel / aus Himmel gemacht / du kannst mich reinlegen“ heißt es im ersten, titelgebenden Gedicht. Die Liebe erscheint als Schlüsselmotiv des Bandes, wird jedoch nicht als gefühlsseliges Bild romantischer Beschwörung eingesetzt. Indem sie jenseits ihrer verlockenden Reize („süß und fruchtig / ihren Rost gefühlt in / meinem Hals und / zwischen den Schenkeln ihr / Pochen“) ebenso sehr auch als Bedrohung der eigenen Existenz begriffen wird („Dir / bleibt mein Körper meine Nacht / du wirst mir einen Strick draus drehen“) offenbart Hehn einen unbestechlichen Realismus, der immer die Distanz der Liebenden wahrt und einfordert und dies textuell auch in Form unharmonischer Gefüge spiegelt. Andere Gedichte setzen das Begehren als weitere Facette der Liebe und überzeugen mit ihrer sublimen, trockenen Erotik („Ich möchte dich lieben bei / offener Tür / und so dass draußen die Regenschirme / rot werden vor Scham“).
Sequenzen wie diese werden von leichtfüßig abgründigen Aphorismen abgelöst, die in zahlreichen weiteren Gedichten des Bandes in wohltuend unprätentiöser Weise existenzielle Augenblicke einfangen („Manchmal sterben wir eine Minute lang / in der Straßenbahn“). Es sind häufig Momente erfahrungsgesättigter Einsicht („Tja so ist das Leben / wir haben Gründe genug / baden zu gehen an unserem Laufsteg / an dieser verdammten Echoböschung“), die in poetische Formeln gegossen punktgenau treffen, ohne dabei pathetisch überhöht zu werden. Und nicht selten hat man beim Lesen das Gefühl: In diesen Texten ist kein Wort zu viel.
Die klar gesetzte Sprachführung, die poetische Potentiale zwischen den Zeilen und über die Zeilenränder hinaus immer wieder – aber nicht um jeden Preis – entdeckt und ausschöpft, verhilft dem Band mit einer ganzen Reihe von Gedichten zu beachtlichem Gewicht. Allen Gedichten dieses Bandes merkt man an, dass sie nicht aus dem luftleeren Raum heraus geschaffen sind. Sie entstammen erkennbar der Feder einer erfahrenen Dichterin und zeugen von deren Hingabe einem ganzen Leben gegenüber – in all seinen Dimensionen.
Am Motiv des Märchens, mit dem Hehn als junge Lyrikerin häufig anspielungsreich operierte, hat sie zu einem Esther-Portrait Lucian Freuds einen der stärksten Texte des Bandes geschaffen: „Springen wir durchs nächtliche Feuer / kerb ich kaum Narben dir ein / mein Haar mein Prinz ist kein Goldsee / mein Haar ist Falle kein Reim / hüllt morgens dich ein erwach ich / neben dir / denn dir gehört etwas mir alles / vor allem der Weg zu mir“. Das Gedicht zelebriert das Subjekt als ein zwingend in sich isoliertes – und bricht die Illusion eines jeden (hier auch des Märchenprinzen-)Klischees. Folgerichtig gerät der Rhythmus des Textes aus den Fugen, sobald der Reim sich selbst benennt. So mag es auch für die Liebe gelten.
Bei einer Zahl von 19 Buchveröffentlichungen bietet dieser zwölfte Gedichtband der Autorin mit seinen etwa 50 Gedichten einen großen Raum, in bisweilen nur wenigen Zeilen zahlreiche komplexe Gewebe und Geschichten auszuloten und sich in ihnen und dem Wechselspiel mit der Kunst zu verlieren. Denn in Ilse Hehns Gedichten realisiert sich im besten Sinne die Rolle der Dichtung nach Cocteau: „Sie nimmt den Schleier fort“.



Liebe – der dunkle Magnet

Ilse Hehn, Sandhimmel, Lyrik und Übermalungen, edition textfluss, danube books Verlag 2017, Ulm, ISBN 978-3-946046-06-6, 105 Seiten, 18,00 EUR

Die im Banat/Rumänin geborene und in Ulm lebende Künstlerin und Autorin Ilse Hehn stellt in ihrem neuen Buch „Sandhimmel“ das Thema Liebe in den Mittelpunkt sowohl ihrer lyrischen Beschreibung als auch ihrer wörtlich zu verstehenden Bildbetrachtung. Inspiriert von bedeutenden Werken großer Maler wie Otto Dix, Pablo Picasso, Marc Chagall, Gustav Klimt, Egon Schiele und vielen anderen, greift sie die Kernelemente des Dargestellten auf und antwortet mit Gedichten, sodass ein Dialog zwischen Bild und Text entsteht. Darüber hinaus verleiht sie dem jeweiligen Kunstwerk ihre eigene Note durch Übermalungen, ohne dadurch den ursprünglichen Charakter zu zerstören. Farbkleckse, Schlieren, Kreise, Striche und schwungvolle Rundungen sorgen für eine neue Dynamik und zeugen von der individuellen Anschauungsweise der Autorin. Auf jeder Doppelseite stehen sich Bild und Text gegenüber. Die dadurch verstärkte Ausdruckskraft sorgt für einen oft fließenden Übergang vom Bild zum Text und umgekehrt. Was Ilse Hehn hier zwischen Hall und Widerhall gelingt, erschließt sich dem Leser, der sich diesem hochwertig gearbeiteten und inhaltlich anspruchsvollen Buch intensiv widmet, als Spiegelbild vielfältiger Befindlichkeiten.

Das Thema Liebe, ein besonders in der Lyrik viel strapaziertes, oft abgedroschenes Thema, läuft allzu oft Gefahr, in Kitsch abzugleiten. Ganz anders hier: Ilse Hehn geht schonungslos und radikal mit den vielen Facetten der Liebe um. Man kann also davon ausgehen, dass ihr „Sandhimmel“ geerdet ist: „du kannst mich reinlegen“. Frech, radikal, ironisch bis hin zum bitteren Sarkasmus, nimmt Ilse Hehn kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die dunklen, triebhaften und verletzenden Seiten von Erotik und Sinnlichkeit aufzuzeigen. Wer völlig desillusioniert ist, scheint „Im Bilde“ zu sein, wie der Titel eines Gedichts lautet. Es ist ein Bild mit winterlichem Rahmen im Wonnemonat Mai. Das ist aber, laut Ilse Hehn „kein Grund zur Panik/Whisky her/die Rechnung bitte“, denn - „Hey Liebe – ich hab noch eine Rechnung offen.“

Doch es gibt auch jene elegische Stimmung, die Ilse Hehn in einer ganz anderen Tonlage anzusprechen und auszusprechen weiß, in welcher die Liebe „der Seele Trauerrand öffnet“, und jene Einsamkeit, in der man „im Innersten nicht mehr erreichbar“ ist, wenn „im Sterben die Blätter fallen“.  

Ilse Hehn kennt die vielen Facetten des Phänomens Liebe, das letztlich nicht zu fassen, sondern immer nur zu umkreisen und zu umschreiben ist. Die Liebe ist „ein weites Gefühl dieses Spiel/da wir zurückfallen in uns und staunen.“ Im Gedicht „Liebe“ wird aufgezählt, was die von Egon Schiele gemalte Frau mit derselben bereits „angefangen“ hat. Das reicht vom Vergolden bis zum Verhöhnen, Auspfeifen und Vergraben. Aber letztlich hat sie sie, ähnlich wie im Märchen „auch/über sieben Berge getragen“. Zwischen Unentrinnbarkeit und Unmöglichkeit angesiedelt sind die beiden Gesichter, die uns die Liebe zeigen kann. Der so genannte siebte Himmel ist dem Tod oft gefährlich nahe. Eros und Thanatos sind Geschwister und Rivalen seit jeher. Der auf Lebenserfahrung basierende Rat der Autorin lautet deshalb: „Liebe/das kann auch Abstand/bedeuten zwischen dir/und mir/Distanz/die uns das/Schwimmen ermöglicht.“

Mit den Mitteln der Sprache schlägt Ilse Hehn einen weiten Bogen um dieses unerschöpfliche Thema, das auch die hellen und faszinierenden Momente mit einschließt. So entstehen Sprachbilder von großer Schönheit und Vielschichtigkeit: „Im Schneefall/ pflücken wir in unseren Augen Äpfel“, oder „zwischen den Augen trocknen die Feldwege ab“. 

Und letztlich liegt über allen Dissonanzen ein unüberhörbar versöhnlicher Ton, einer, der sich an ein uraltes biblisches Wort anlehnt mit der Erkenntnis: „Doch noch immer wehrt Liebe dem Tod.“

Eingestreut und vornehmlich im letzten Drittel des Buches zu finden sind noch Gedichte, die andere Themen aufgreifen wie z.B. Ost-Aleppo 2016, aber auch das Betrachten von Naturphänomenen und ihre lyrische Umsetzung. Die für Ilse Hehn inzwischen wohl zur zweiten Heimat gewordene Stadt Ulm wird mit einer sehr phantasievollen Hommage bedacht: „Mächtig atmet der Münsterturm mit kalter Brust/die Donau/ ihr langer Geigenton der Sehnsucht“. Mit ihrem eigenständigen Gemälde „Landschaft bei Ulm“ und dem Gedicht „Schwäbisches Motiv“ stimmt die Autorin eine „Ode an die Freude“ an, während sich „Nebel über Heimatlob“ legt. Wie auch im Gedicht mit dem Titel „Ulm oh Ulm ach“, welches laut Anweisung der Autorin „scherzoso“ - also scherzhaft - zu intonieren sei, ist auch hier der zynische Unterton unverkennbar und – ich zitiere die Worte des Verlegers auf der Cover-Rückseite des Buches – „irritiert, amüsiert, lässt schmunzeln und macht vor allem: Peng!“

Ilse Hehn ist zu der Erkenntnis gekommen, dass „das Wort viel zu schwach ist /für die Dauer einer Umarmung“ und hat mit ihren Übermalungen ins Bild gesetzt, was sich ohne Worte sagen lässt. Möge der Leser, der beidem nachspürt, sich Zeit nehmen und sich durch die in diesem Buch waltende Kunst und Poesie (ver)führen lassen, bis sich so mancher Nebelschleier, der über dem Reich der Liebe liegt, zu lichten beginnt.

Anneliese Merkel

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